Krebsstudie
Wie man viele Krebsfälle vermeiden könnte
Was wäre, wenn in Deutschland niemand rauchen würde? Alkohol nur zum Nippen da wäre? Wenn alle Normalgewicht hätten und das Schnitzel nur am Sonntag auf den Tisch käme? Dann würden allein 2018 mehr als Hunderttausend Menschen weniger an Krebs erkranken, fasst Irene Berres auf «Spiegel.de».
Zu diesem Ergebnis kommen mehrere Studien, die Forscher des Deutschen Krebsforschungszentrums (DKFZ) im "Deutschen Ärzteblatt" veröffentlicht haben. Es ist die erste derart umfassende Analyse für Deutschland. Den Forschern zufolge hätten 2018 insgesamt 165'00 von 440'000 Krebserkrankungen verhindert werden können - 37,4 Prozent. Als Krebsfall wurde jeder gezählt, der in dem Jahr eine neue Diagnose bekommt.
Ein Grossteil der verhinderbaren Fälle geht nach wie vor auf das Rauchen zurück, hinzu kommen unter anderem Infektionen, Bewegungsmangel oder Feinstaub. Die tatsächliche Zahl der vermeidbaren Krebserkrankungen dürfte noch deutlich höher liegen. Aufgrund mangelnder Daten konnten die Forscher Krebsfälle als Folge der Sonnenstrahlung nicht mit einrechnen. Die UV-Strahlung gilt als die Hauptursache für Hautkrebs.
Neben der allgemeinen Berechnung betrachteten die Forscher alle Faktoren - von Rauchen über Bewegungsmangel bis hin zu Infektionen und zur Radon-Belastung in Innenräumen - auch isoliert voneinander: Wie würde sich die Zahl der Krebsfälle verändern, wenn etwa niemand mehr rauchen würde, aber alles andere bliebe, wie es ist?
Die Ergebnisse im Detail:
1. Rauchen
Den aktuellen Schätzungen zufolge würden in einem Deutschland ohne Tabak 2018 nur 7000 Menschen an Lungenkrebs erkranken - und nicht 53'000. Insgesamt schreiben die Forscher dem Tabak rund 85'000 der rund 440'000 Krebserkrankungen zu, die es 2018 in Deutschland geben wird. Neben Lungenkrebs steigert Rauchen das Risiko noch für elf weitere Krebsarten.
Das heisst: Fast jeder vierte Krebsfall bei Männern und jeder achte bei Frauen wäre vermeidbar, wenn niemand rauchen würde. Dass Männer so viel häufiger betroffen sind, hängt vor allem damit zusammen, dass sie viel häufiger rauchen.
Es würde allerdings Jahrzehnte dauern, bis es keinen Krebsfall mehr durch Tabak geben würde - selbst wenn ab heute niemand mehr raucht. "Denn ehemalige Raucher haben weiterhin ein erhöhtes Krebsrisiko, obwohl das Risiko nach dem Rauchstopp mit den Jahren sinkt", schreiben die Forscher.
2. Alkohol
Eine deutsche Gesellschaft ohne Alkohol? Das hielten selbst die Krebsforscher für utopisch. Obwohl der Stoff als krebserregend eingestuft ist, setzten sie als Ziel keinen kompletten Verzicht an. Stattdessen errechneten sie, wie viele Menschen weniger an Krebs erkranken würden, wenn Frauen täglich weniger als zehn Gramm, Männer weniger als 20 Gramm reinen Alkohol konsumieren. (Ein kleines Bier hat 12,7 Gramm).
Laut den Berechnungen wären mehr als zwei Prozent aller Krebsfälle (rund 9600) vermeidbar gewesen, wenn alle Menschen in Deutschland nur hin und wieder mal an Wein, Bier oder Gin Tonic nippen würden. Den grössten Anteil hatte Alkohol beim Mundhöhlen- und Rachenkrebs. Dort wären den Berechnungen zufolge 34 Prozent der Fälle bei Männern und sechs Prozent der Fälle bei Frauen weggefallen, wenn alle in der Vergangenheit wenig getrunken hätten.
So haben die Forscher gerechnet
Um zu kalkulieren, wie viele Menschen 2018 aufgrund vermeidbarer Faktoren an Krebs erkrankten, kombinierten die Forscher in der Regel drei Informationen: Statistiken dazu, wie viele Menschen dem jeweiligen Risikofaktor ausgesetzt waren - zum Beispiel rauchten. Dabei berücksichtigten sie, dass heutige Krebserkrankungen oft auf das Verhalten von vor zehn Jahren zurückzuführen sind.
Mithilfe der Daten schätzten die Forscher ab, wie viele der Krebsfälle auf den jeweiligen Risikofaktor zurückzuführen sind. Wichtig: Einzelne Krebsfälle können mehrere Ursachen haben (etwa Rauchen und Feinstaub) und deshalb bei mehreren Punkten auftauchen. Das haben die Forscher in ihren Gesamtzahlen berücksichtigt.
3. Übergewicht
Viele Menschen bringen Übergewicht und Krebs nicht direkt miteinander in Verbindung. Überschüssige Pfunde können jedoch das Risiko steigern, indem sie zum Beispiel chronische Entzündungen fördern oder das Gleichgewicht bei Geschlechtshormonen oder Wachstumsfaktoren stören, schreiben die Forscher.
Den Daten zufolge gehen 2018 etwa sieben Prozent aller Krebsfälle (30.567) auf Übergewicht zurück. Besonders gross ist der Einfluss demnach bei bösartigen Tumoren der Gebärmutter, der Niere und der Leber. Als übergewichtig galten bei den Berechnungen alle Personen ab einem BMI von 25.
4. Ungesunde Ernährung
Essen beeinflusst auf mehreren Wegen das Krebsrisiko: Zum einen kann es krebserregende Stoffe enthalten, die etwa beim Räuchern und Pökeln von Fleisch entstehen. Daneben trägt eine ausgewogene Ernährung aber auch indirekt zu einem geringeren Krebsrisiko bei, indem sie hilft, ein optimales Gewicht zu halten.
Bei der Definition gesunder Ernährung orientierten sich die Wissenschaftler an den Empfehlungen des World Cancer Research Fund (WCRF). Demnach sollten Erwachsene:
- mindestens 32 Gramm Ballaststoffe pro Tag essen
- täglich mindestens 400 Gramm Obst und nicht stärkehaltiges Gemüse (Kartoffeln zählen nicht) verzehren
- Wurst komplett streichen
- rotes Fleisch auf weniger als 500 Gramm pro Woche beschränken und
- weniger als sechs Gramm Salz pro Tag zu sich nehmen.
Den Schätzungen zufolge gehen 2018 acht Prozent aller Krebserkrankungen (insgesamt 34.162 Fälle) auf eine Ernährung zurück, die diese Regeln verfehlt. Den grössten Einfluss haben dabei Ballaststoffmangel, der Verzehr von Wurst sowie ein Mangel an Obst und Gemüse. Salz und rotes Fleisch hingegen trügen nur geringfügig zur Krebslast bei, schreiben die Forscher.
5. Bewegungsmangel
Die Deutschen sind Bewegungsmuffel, das ist schon seit Jahren ein Problem. Um das Krebsrisiko so weit wie möglich zu senken, sollten sich Erwachsene laut WCRF mindestens 150 Minuten die Woche moderat oder intensiv bewegen. Das schafft nur ein Bruchteil.
Die Folge sind laut den Schätzungen mehr als 27'000 Krebserkrankungen, etwa sechs Prozent aller Fälle. Die schützende Wirkung von Bewegung ist eng verknüpft mit der einer ausgewogenen Ernährung - sie hilft unter anderem, Übergewicht zu vermeiden und steuert Entzündungen entgegen.
6. Infektionskrankheiten
Für den Nachweis, dass humane Papillomviren (HPV) Gebärmutterhalskrebs auslösen können, erhielt der deutsche Forscher Harald zur Hausen 2008 den Nobelpreis. Neben HPV kennen Mediziner heute noch eine Reihe weiterer Krankheitserreger, die Krebserkrankungen begünstigen. Dazu zählen das Bakterium Helicobacter Pylori, Hepatitis B und C, HIV sowie das humane Herpesvirus Typ 8.
Alle zusammen führen den Berechnungen zufolge zu etwa fünf Prozent aller Krebsfälle bei Frauen (rund 9900) und drei Prozent aller Krebsfälle bei Männern (rund 7700). Rund 90 Prozent der Erkrankungen gingen auf zwei der analysierten Keime zurück: HPV und Helicobacter Pylori.
Vorbeugen lässt sich bei HPV mit Impfungen. Infektionen mit Helicobacter Pylori lassen sich schlecht vermeiden, zusätzlich bleiben sie oft unerkannt. Was helfen würde: Gezielte Tests und Therapien. Dass der Anteil bei Frauen höher ist als bei Männern, sei hauptsächlich darauf zurückzuführen, dass Gebärmutterhalskrebs fast immer auf HPV beruht.
7. Umweltfaktoren
Bei diesem Punkt betrachteten die Forscher Umweltfaktoren, die das Krebsrisiko erhöhen und modifiziert werden können. Insgesamt sind ein Prozent aller Krebsfälle (mehr als 5400) auf die betrachteten Faktoren zurückzuführen.
Im Einzelnen:
- Radon in Innenräumen zählt neben Rauchen zu den wichtigsten Ursachen für Lungenkrebs. Es zerfällt nach dem Einatmen in der Lunge, wobei radioaktive Strahlung frei wird. Das Edelgas ist in der Erde enthalten und kann über den Untergrund in Gebäude eindringen. Die Belastung liesse sich durch strengere Bauvorschriften reduzieren, schreiben die Forscher. Dadurch hätten 2018 rund 3200 Krebserkrankungen vermieden werden können. (Beim Bundesamt für Strahlenschutz finden Sie eine Deutschlandkarte zur Radonbelastung.)
- Passivrauch führt den Schätzungen zufolge 2018 zu 309 Lungenkrebsfällen.
- Beim Feinstaub waren durchschnittlich 23 Prozent der Bevölkerung Konzentrationen ausgesetzt, die über dem von der Weltgesundheitsorganisation (WHO) empfohlenen Grenzwert lagen. Darauf lassen sich den Berechnungen zufolge 2018 insgesamt 1049 Lungenkrebsfälle zurückführen.
- Häufige Solariumsbesuche erklären 2018 insgesamt 892 Hautkrebsfälle. Der Einfluss der Sonnenstrahlung dürfte deutlich grösser sein. Hierzu fehlten den Forschern jedoch repräsentative Daten, die Berechnungen für ganz Deutschland zugelassen hätten.
Fazit: Ein Grossteil der vermeidbaren Krebsfälle entsteht durch einen ungesunden Lebensstil, also Rauchen, Alkohol, Übergewicht, Bewegungsmangel und einen Hang zu Fastfood statt Vollkornbrot. Das Gute: Diese Punkte lassen sich - im Gegensatz etwa zur Radonbelastung und Infektionen - noch am leichtesten selbst beeinflussen. Trotzdem liefert auch das vorbildlichste Verhalten keinen hundertprozentigen Schutz vor Krebs.